Dezentrale Führung in Zeiten von COVID-19
Noch Ende letzten Jahres wurde viel darüber diskutiert, ob Home-Office sinnvoll ist oder nicht. Das Lager der Gegner dominierte und es wurden viele Studien und Expertenmeinungen publiziert, die im Home-Office eher die Risiken für Führungskräfte sahen als die Chancen.
Durch COVID-19 gab es zwar keine Dynamik in den Diskussionen, aber in der Umsetzung. Was noch vor wenigen Wochen unmöglich schien, geht nun.
Die Auswertungen von Google-Trends® zeigen sehr deutlich den Anstieg an Informationsbedarf seit dem 8. März.

Mir sind aktuell keine neuen Studien bekannt, aber viele Experten berichten darüber, wie Führungskräfte mit dem Home-Office ihrer Mitarbeiter*innen umgehen sollten.
Wenn man sich die Expertenmeinungen und Ratschläge einmal anschaut, dann beginnen nahezu alle mit diesen oder ähnlichen Sätzen …..
⦁ Als Geschäftsführer eines internationalen Unternehmens haben wir vor vielen Jahren Home-Office eingeführt ….
⦁ Unser Entwicklerteam arbeitete schon immer dezentral …
⦁ Rückblickend auf 3 Jahre Erfahrung mit Home-Office ….
⦁ Seit 2017 arbeiten wir mit agilen Methode ….
⦁ …
Liebe Expertinnen und Experten: Alle, und ich meine wirklich alle, die schon Erfahrungen mit Home-Office machen durften, sind durch einen Transformationsprozess mit Höhen und Tiefen gegangen. Und alle haben eines gemeinsam: Es hat eine Zeit gedauert.
Meinem Hausarzt ist bekannt, dass ich kein Jogger bin. Angenommen, er würde nun zu mir sagen: „Herr Walter, um gesund zu werden, müssen Sie Marathon laufen. Heute ist Mittwoch, am kommenden Montag sollten Sie die Strecke laufen können“. Dann hätte ich zwei Möglichkeiten: Entweder werde ich nicht gesund oder ich wechsle den Hausarzt. Auf keinen Fall würde ich dieses Ziel in dieser kurzen Zeit schaffen.
Um es noch einmal zu betonen: Ich habe nie verstanden, warum man so eine Strecke freiwillig und mit Freude laufen kann. Aber wenn ich, rein hypothetisch, mehr Zeit bekommen würde, dann würde ich
- recherchieren, wie man sich optimal auf so ein Rennen vorbereitet,
- mir einen Trainer oder einem Joggingpartner*in als Coach suchen,
- meinen Hausarzt fragen, ob er mich regelmäßig untersuchen kann,
- das passende Equipment aussuchen und beschaffen,
- einen Trainingsplan erstellen,
- meine Ernährungsgewohnheiten überprüfen und ggf. neue Rezepte ausprobieren,
- schrittweise beginnen zu laufen und die Laufstrecke immer weiter auszudehnen,
- mich regelmäßig mit dem Coach austauschen, ob ich auf dem richtigen Weg bin,
- am Marathon teilnehmen und mich mächtig freuen, wenn ich die Strecke halbwegs gesund schaffe.
Irgendwann werde ich die Distanz schaffen, sodass ich mich dann auf den Laufstil, auf die benötigte Zeit, auf die Strategie und andere Dinge konzentrieren kann. Sicherlich muss ich zwischenzeitlich auch mit Rückschlägen rechnen, muss meine Pläne (z.B. aus gesundheitlichen Gründen) anpassen, muss verschiedene Trainingsmethoden ausprobieren. Aber auch hier steht fest: Alles benötigt seine Zeit.
Bei der aktuellen Home-Office-Situation ist das nicht anders. Führungskräfte, die aus eigenem Antrieb nie verstanden haben, wie man freiwillig und mit Freude auf
⦁ einsame Entscheidungen,
⦁ Abgrenzung gegenüber anderen Teams,
⦁ Beharrungsvermögen bei unterschiedlichen Meinungen,
⦁ Risikominimierung bei Entscheidungen,
⦁ Misstrauen gegenüber Mitarbeiter*innen,
⦁ Kontrollzwang mit Blick auf Kennzahlen,
⦁ Besprechungsorgien ohne konkrete Ergebnisse etc.
verzichten kann, sollen nun genau dies tun. Innerhalb von wenigen Tagen, weitestgehend ohne Begleitung, ohne Reflektion und ohne richtiges Equipment, sprich ohne die erforderliche Methodenkompetenz. Wie soll das gehen?
Was beim Marathon noch halbwegs einsichtig ist, wird bei einer kurzfristigen und schnellen Einführung dezentralen Führungsstrukturen ignoriert. Dabei muss man die Faktoren nur einmal gegenüberstellen:

Bei der aktuellen Situation muss man die Veränderungen zügig auf den Weg bringen, und sicherlich auch konsequent. Dabei spielt auch eine Rolle, wie sich Home-Office nach COVID-19 entwickeln wird. Bleibt alles, wie es nun ist, oder fallen die Organisationen und somit auch die Führungskräfte wieder in alte Muster zurück?
Fakt ist zunächst, dass der Wunsch nach Home-Office deutlich zugenommen hat. Diesen Wunsch haben aber nun nicht nur die Mitarbeiter*innen, sondern interes-santer Weise auch die Unternehmen, die vor Monaten noch argumentiert haben, dass es nicht geht. Wirtschaftliche Interessen haben, wenn auch nicht freiwillig, zu einem Umdenkungsprozess geführt. Plötzlich müssen dezentrale Lösungen her. Leider stehen die technischen und datenschutzrechtlichen Herausforderungen im Fokus und weniger die zwischenmenschlichen.

Bei dem Transformationsprozess handelt es sich um ein Change-Management-Projekt. Dabei bekommt das Word CHANGE eine ganz neue Bedeutung.
C = Chaos. Rechnen Sie damit, dass sich die Mitarbeiter*innen zunächst orientieren müssen. Insbesondere die berufstätigen Mütter waren bis dato schon Organisationstalente, die schon immer Beruf, Haushalt, Familie und Freizeit irgendwie organisieren mussten. Sie werden es jetzt auch schaffen, brauchen aber etwas Zeit.
H = Hilfe. Bieten Sie Ihren Mitarbeiter*innen aktiv Hilfe an. Dabei geht es nicht nur um fachliche Fragestellungen, sondern auch, um Zeitmanagement, Arbeitsorganisation und Koordination von Beruf und Familie.
A = Ambidextrie. Auf der einen Seite muss das Tagesgeschäft sichergestellt werden, auf der anderen Seite stehen viele weitere Themen im Fokus der Mitarbeiter*innen. Ängste aufgrund der aktuellen Situation, Sorge um Freunde und Bekannte, die zur Risikogruppe gehören, Sicherstellung der Verpflegung, Ausbildung bzw. Beschäftigung der Kinder und vieles mehr.
N = Netzwerk. Sorgen Sie für den regelmäßigen Informationsfluss. Stellen Sie den regelmäßigen Austausch untereinander sicher und kümmern Sie sich darum, dass alle Informationen zeitnah und vollständig an alle kommuniziert werden. Telefonieren oder skypen Sie lieber einmal zu viel als einmal zu wenig.
G = Gamifikation. Bieten Sie Anreizsysteme, damit alle Beteiligten den aktuellen Produktionsstand / Projektstatus kennen. Definieren Sie Zwischenziele oder Prototypen und feiern Sie virtuell die erzielten Erfolge. Berichten Sie regelmäßig und in einer angenehmen Art und Weise, sodass die Menschen Freude an der Arbeit haben. Die aktuelle Situation ist schon schwierig genug.
E = Empathie. Alle Beteiligten brauchen das Gefühl, gebraucht zu werden und ein wichtiger Bestandteil des Teams zu sein, mehr denn je. In Zeiten physischer Distanz brauchen wir emotionale Nähe. Nicht künstlich aufgesetzt, sondern individuell wertschätzend. Dazu gehören auch mal ein paar telefonische Einzelgespräche.
Fazit:
Überprüfen Sie als Führungskraft Ihre eigene Bereitschaft, agile Methoden und Strukturen einzuführen. Wenn Sie sich nicht sicher sind, holen Sie sich Unterstützung. Jetzt haben Sie die Chance, die Beziehung zu Ihren Mitarbeiter*innen auf eine ganz neue Basis zu stellen. Nutzen Sie die Zeit, bevor es zu spät ist. Und bleiben Sie gesund.