Wäre, wäre Fahrradkette

Entscheiden agile Führungskräfte schneller, richtiger oder nur anders?

Von wäre und hätte

„Wäre, wäre, Fahrradkette, so ungefähr… oder wie auch immer „. So wurde es von dem geschätzte Lothar Matthäus mehr oder weniger präzise in einer Sport-Fernsehsendung im August 2017 formuliert.
Nicht der leicht modifizierte Spruch als Ganzes ist heute entscheidend, sondern allein das Wort „wäre“. Das dürfte neben dem Wort „hätte“ in den letzten Wochen im Kontext COVID-19 auf der Wörterhitliste bei „Nicht-Virus-Begriffen“ ziemlich weit oben stehen:
⦁ Hätten wir gewusst, dass ….
⦁ Hätten wir anders reagieren müssen, um …
⦁ Hätten wird statt des Lockdowns nicht anders reagieren sollen…
⦁ Wäre es unbedingt nötig gewesen, dass…
⦁ Wären wir schon von Anfang an anders mit Covid-19 umgegangen, dann ….
⦁ Wären wir besser vorbereitet gewesen, dann…
⦁ Hätten wir mehr Zeit gehabt….
⦁ ….
Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Liebe Besserwisser: Wären wir nicht so wie wir sind, hätten wir …. Haben wir aber nicht. Das Problem von Prognosen ist, dass die Zukunft nicht in der Vergangenheit liegt. Jede Woche bin ich Gewinner des Eurojackpots, aber leider nur retrograd. Hätte ich am Freitag die richtigen Zahlen ausgewählt, wäre ich ….. Habe ich aber leider nicht. Daher sitze ich hier und schreibe diesen Text.
So geht es allen Menschen, und insbesondere Führungskräften, die jeden Tag Entscheidungen fällen müssen. Da gibt es diejenigen, die es gerne tun und bereit sind, Verantwortung übernehmen. Ihnen reicht es, wenn sie eine gewisse Anzahl an Informationen zur Verfügung und den Nutzen klar vor Augen haben, den diese Entscheidung bringen wird. Das nennt man Entscheidungsfreude.

Manche Menschen benötigen mind. 80% der verfügbaren Informationen für eine Entscheidungsgrundlage, andere nahezu 100%. Das Problem: Niemand kann sagen, wo die 80% bzw. die 100% liegen. Das Risiko möchte man nicht eingehen, denn man hat schon genug Situationen erlebt, wo man auf „hätten“- und „wären“ – Vorwürfe reagieren musste. Das nennt man dann Erfahrungslernen.

Dann gibt es die große Gruppe der Personen, die Entscheidungen immer wieder vor sich herschieben. Zu groß ist die Sorge, einen Fehler zu machen und später zur Rechenschaft gezogen zu werden. Das nennt man Misserfolgsvermeidung.

Zuletzt gibt es sicherlich noch eine ganz kleine Gruppe von Menschen, die tatsächlich krankhafte Angst davor haben, Entscheidungen fällen zu müssen. Das nennt man dann Decidophobie.

Wie funktioniert das mit den Entscheidungen?

Zu dem Zeitpunkt, zu dem wir die Entscheidung fällen, ist sie IMMER richtig. Natürlich kann sich später, wenn es weitere Informationen gibt oder sich die Rahmenbedingungen bzw. Anforderungen verändert haben, die Entscheidung als nicht optimal herausstellen. Aber dann hat sich Entscheidungsbasis auch verändert. Um das zu verstehen sollten wir wissen, was in unserem Körper respektive in unserem Kopf los ist, wenn wir Entscheidungen fällen. Was passiert in unserem Gehirn, was in unserem Unterbewusstsein? Und sind agile Führungskräfte entscheidungsfreudiger als Führungskräfte, die konservativ führen?
Hirnforscher haben herausgefunden, dass das „Denkhirn“ gar keine Entscheidungen treffen kann, sondern dass es ca. 300 Millisekunde zuvor einen Impuls im Limbischen System (Unterbewusstsein / Gefühlszentrum) gibt. Bedeutet, dass 100 % aller unserer Entscheidungen zuerst im Unterbewusstsein gefällt werden und nachträglich vom praemotorischen Teil des Neocortex (Bewusstsein) begründet werden.

2010 fanden britische Hirnforscher noch genauer heraus, was im Gehirn beim Treffen einer Entscheidung genau passiert. Sie haben entdeckt, dass der Botenstoff Dopamin freigesetzt wird und positive Gefühle im Belohnungszentrum erzeugt, wenn die Entscheidung zu positiven Folgen führt bzw. wenn positive Folgen absehbar sind (Vorfreude). Das menschliche Gehirn simuliert die möglichen Ergebnisse jeder Entscheidungsoption, ohne dass wir davon etwas merken. Es spielt unterbewusst und in hoher Geschwindigkeit dabei durch, welche Emotionen nach einer Entscheidung aufkommen könnten und wie das persönliche Wohlbefinden dabei wäre. Die attraktivste Variante erhält dann den Vorrang und das Limbische System entscheidet entsprechend. Der Eindruck, wir hätten uns logisch und vernünftig entschieden, ist lediglich eine Begleiterscheinung. [1]

In der Psychologie geht man grundsätzlich davon aus, dass bei einem Entscheidungsprozess zuerst Alternativen benannt und Informationen gesammelt werden, um danach die Wahlmöglichkeiten zu bewerten. Auf dieser Basis kommt es zu einer Handlungsabsicht, zu einer Entscheidung. Dabei spielt der zu erwartende Nutzen eine entscheidende Rolle: Geht es um Erlangung von Freude oder um Vermeidung von Schmerz. Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Herbert Simon schränkte allerdings ein: Der Mensch sei nicht fähig, den maximalen Nutzen zu erreichen, da er bei seinen Entscheidungen niemals alle Alternativen und Konsequenzen kennen könne. [2] Da sind wir wieder bei den Pseudo-100-Prozent.

Viele Führungskräfte tun sich schwer, von Mitarbeiter*innen selbständig entscheiden zu lassen. Als hierarchisch höher gestellt Person ist man häufig der Meinung, man wäre schlauer. Schließlich hat man Abitur, man hat studiert, ggf. sogar promoviert. Die anderen haben höchsten irgendwann eine Ausbildung gemacht, aber mehr auch nicht. Diese Argumentation führt dazu, dass man „Entscheidungsfähigkeit“ mit „IQ“ gleichsetzt. Das wiederum ist nicht ganz so clever, denn ein IQ (Bewertung des intellektuellen Leistungsvermögens im Allgemeinen) unterscheidet sich vom „Kritisches Denken“ (Die Fähigkeit, ein Urteil anhand von Interpretation, Analyse, Bewertung und Schlussfolgerung zu treffen.)

Heather A. Buttler, Psychologin an der California State University, hat dies intensiv untersucht und kam zu folgendem Ergebnis: „IQ und kritisches Denken existieren nicht losgelöst voneinander, sondern überschneiden sich. Das bedeutet aber nicht zwangsweise, dass ein hoher IQ auch mit der Fähigkeit einhergeht, kritisch zu denken. Diejenigen, die über eine kritischere Denkfähigkeit verfügten, vermieden problematische Situationen eher als die Probanden mit einem hohen IQ. Sie erzielten durch ihre Entscheidungen insgesamt weniger negative Lebensereignisse.

Das heißt, wir müssen nicht unbedingt einen IQ von 130 haben, um gute und für uns langfristig positive Entscheidungen treffen zu können. Umgedreht bedeutet das natürlich auch, dass wir uns nicht blind auf Entscheidungen von jemandem verlassen können und sollten, nur weil derjenige bzw. diejenige über eine hohe Intelligenz verfügt.“ [3]

Es liegt im Grundprinzip des agilen Arbeitens, dass man dem Auftraggeber vorzeigbare aber nicht fertige Ergebnisse präsentiert, die dem Auftraggeber nicht zu 100% gefallen. Da nützen keine „wären“ und keine „hätten“, da nützt nur ein vernünftiges Feedback mit dem Ziel, nachzubessern oder den Prototypen sogar komplett zu verwerfen. Das ist kein Manko, das ist so gewollt. Das nennt man dann übrigens flexible und dynamische Vorgehensweise.
Für eine agile Führungskraft ist es deutlich einfacher, Entscheidungen von den Mitarbeiter*innen fällen zu lassen, denn es ist nicht entscheidend, wer schlauer ist oder wer die höchste Ausbildungsstufe erreicht hat, sondern wer die größte Fachkompetenz bzw. Erfahrung hat. Diese Person sollte den Entscheidungsprozess maßgeblich beeinflussen.

Unabhängig davon, wer wann wo welche Entscheidung fällen sollte, ist es hilfreich, eine paar Erkenntnisse aus der neuesten Forschung zu berücksichtigen [4]:

  • Bei komplizierten Entscheidungen versucht unser Instinkt automatisch die Optionen einzugrenzen oder zu beschneiden, die negative Folgen haben könnten. Größere Erfolge könnten allerdings verpasst werden und sogar zu Depressionen führen.
  •  Müssen wir eine Kette von Entscheidungen planen, die aufeinander aufbauen, werden wir schnell überfordert und versuchen, die Schritte „zusammenstreichen“ um zu vermeiden, dass bereits der erste Schritt eine ernsthaft negative Verbindung beinhaltet, ganz gleich, was das generelle Ergebnis wäre.
  •  Wenn eine Person in einer guten Stimmung ist, urteilt er/sie besser als eine unglückliche Person.
  • Das Training mit Videospielen / Computerspielen hilft den Menschen, Entscheidungen schneller zu treffen, weil Video-Spieler*innen eine erhöhte Empfindlichkeit dafür entwickeln, was um sie herum los ist.
  • Einige Menschen fällen Entscheidungen auf Basis von Wahrscheinlichkeiten, was man „probabilistische Folgerungen“ nennt. Das Gehirn sammelt stetig kleine Stücke visueller oder auditiver Informationen. Wie eine Person, die eine Szene begutachtet, bis sie schließlich glaubt, genug für eine akkurate Entscheidung gesammelt zu haben.
  •  Menschen fällen eher emotionale statt objektive Urteile, wenn das Ergebnis der Entscheidung in der nahen Zukunft liegt. Die Nähe des Ergebnisses einer Entscheidung steigert das Vertrauen hinsichtlich seiner Gefühle, wenn Entscheidungen getroffen werden.
  • Entscheidungsfindung findet oft unter zeitlichem Druck statt. Wenn Verbraucher sofort vor dem Verbrauch entscheiden (z.B. ein Hauptgericht in einem Restaurant, oder ein Mobiltelefon wählen), sollten die Informationen die Emotionen der Verbraucher ansprechen. Wenn ein Verbraucher über einen Kauf im Voraus entscheidet (eine Rente wählt oder Flüge bucht), sollten die Entscheidungsparameter die objektiven Beurteilungen ansprechen.
  • Für gute Entscheidungen braucht man geistige Energie. Da hilft auch schon mal ein Schokoriegel und irgendetwas anderes, welches die eigene Energie antreibt.

Am Ende stellt sich die Frage: Zu welcher Tageszeit sollen wir Entscheidungen fällen?
Viele Besprechungen finden am Nachmittag statt und enden oft erst am Abend. Sollte man also eher zum Abend wichtige Entscheidung fällen oder es so halten wie der Amazon-Chef Jeff Bezos, der wichtige Besprechungen immer nur morgens zwischen 10:00 – 12:00 Uhr terminiert? Argentinische Wissenschaftler haben folgendes herausgefunden: „Die genaueste Entscheidung treffen wir zwischen 8 und 13 Uhr. Allerdings: Die Entscheidungen, die in dieser Zeit getroffen wurden und am genauesten waren, dauerten auch am längsten. Über den Tag hinweg beschleunigte sich die Zeit für die Entscheidungsfindung, dafür wurde die Entscheidung aber ungenauer.“ [5]

Auch hier zeigen sich die Vorteile des agilen Arbeitens. Durch die regelmäßigen kurzen Sitzungen, idealerweise in Form von Daily Scrums, hat man genug Zeit für eine Entscheidung auf Basis eines breiten Teamkonsens. Durch die auf kurze Arbeitszyklen (Sprints) abgestimmte Aufgaben (Stories) hat man die Möglichkeit, genau nur für diese Pakete die Entscheidungen fällen zu müssen und bei Bedarf beliebig gegensteuern zu können.

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